Tannenbaum statt Dönerspieß

Dass der demografische Wandel in vollem Gang ist, lernt inzwischen jede Schülerin und jeder Schüler. An die Stelle der „Bevölkerungspyramide“, die zu meinen Schulzeiten unterrichtet wurde, ist der „Dönerspieß“ getreten, ein Begriff, der die aktuelle Altersverteilung in Deutschland anschaulich illustriert:

Altersverteilung in Deutschland 2022 (Quelle: Destatis)

Aber wie liegen die Dinge in München? Das kann man dem umfangreichen „Demografiebericht 2022“ entnehmen, den das Stadtplanungsreferat am vergangenen Mittwoch vorgelegt hat. Der folgende Beitrag fasst wesentliche Ergebnisse dieser Studie zusammen und nimmt Stellung zu einigen Schlussfolgerungen der Mitglieder des Ausschusses für Stadtplanung und Bauordnung.

Der Demografiebericht ist zweiteilig angelegt: Im ersten Teil werden Daten für ganz München präsentiert. Im zweiten Teil werden diese Informationen auf die einzelnen Stadtbezirke heruntergebrochen. Beide Teile erläutern sowohl den Istzustand 2022 als auch eine Prognose für die Bevölkerung im Jahr 2040.

Eine erste wichtige Erkenntnis ist, dass Münchens Demografie anders ist. Im Gegensatz zu Deutschland insgesamt, wo die alternden „Babyboomer“ zahlenmäßig am stärksten sind, ist die Gruppe der 25 – 35 jährigen hier am größten:

Vergleich der Demografie von Deutschland insgesamt und München (Quelle: Teil 1 des Demografieberichts)

Die Altersverteilung in München (grau) sieht daher eher wie ein Tannenbaum aus.

Woran liegt das? Maßgeblich für die Bevölkerungsentwicklung Münchens ist das Verhältnis von Zu- und Abwanderung. Die Anzahl der Geburten und Sterbefälle hat demgegenüber eine untergeordnete Bedeutung, wie man am genauen Vergleich der folgenden beiden Schaubilder klar erkennen kann:

Geburten-und Sterberaten (links) im Vergleich mit Zu- und Abwanderung (rechts). Man beachte die unterschiedliche Skalierung der beiden Schaubilder
(Quelle: Eigene Zusammenstellung aus Teil 1 des Demografieberichts)

Während der Überschuss der Sterbefälle oder (aktuell) der Geburten zu jährlichen Bevölkerungsveränderungen von etwa 5000 Personen führt, liegt der jährliche Wanderungssaldo in einem Bereich von bis zu 50.000 Personen.

Beeindruckend finde ich die absoluten Zahlen der Zu- und Abwanderung: Seit den 70er Jahren ziehen jedes Jahr ungefähr 100.000 Personen nach München. Die Anzahl der Wegzüge lag zumeist darunter, erreicht aber in vielen Jahren ebenfalls die Schwelle von 100.000 Personen. Das bedeutet, dass etwa 7% der Stadtbevölkerung jedes Jahr ausgetauscht werden!

Um zu verstehen, was da vor sich geht, ist ein weiteres Diagramm aus dem Demografiebericht hilfreich. Es zeigt die Altersabhängigkeit der Zu- und Abwanderung:

Altersverteilung der Umzüge von und nach München sowie innerhalb der Stadt in 2022 (Quelle: Demografiebericht, Teil 2)

Hieraus kann man die typische Biographie der „Zuagroasten“ ableiten:

Im Alter von 18 – 30 kommt man zur Ausbildung und / oder zum Berufseinstieg nach München. In diesem Lebensabschnitt ist München offensichtlich hochattraktiv. Schon wenige Jahr später ziehen allerdings viele wieder weg, so dass der Wanderungssaldo zwischen Anfang 30 und Anfang 40 negativ wird. Familiengründungen und die hohen Kosten für eine größere Wohnung oder gar ein Haus könnten für diese Entscheidung maßgeblich sein. Viele ziehen in dieser Zeit aber auch innerhalb Münchens um (vgl. die grüne Kurve).

Nach der Lebensmitte beruhigt sich das Wanderungsverhalten. Zu beobachten ist allerdings, dass es mit Beginn des Ruhestands (ab ca. 60 Jahre) noch einmal zu einem kleinen negativen Wanderungssaldo kommt. Auch hier könnten die hohen Kosten in München eine Rolle spielen.

Die große Bedeutung der Zu- und Abwanderung wirft die Frage auf, woher die Leute kommen und wohin sie gehen. Dazu gibt es im Demografiebericht eine komplexe Tabelle:

Tabelle zur zeitlichen und räumlichen Verteilung des Wanderungssaldo seit dem Jahr 2000: Blau bedeutet Zuwanderung nach München, rot zeigt Abwanderung (Quelle: Demografiebericht, Teil 1)

Danach hat München in allen Jahren seit der Jahrtausendwende Einwohner an die umliegende Region und zuletzt auch an Oberbayern und Bayern insgesamt verloren. Die Nettozuwanderung kommt aus den anderen Bundesländern, den EU-Ländern und – ganz deutlich in 2022 – aus Ländern Europas, die nicht in der EU sind, insbesondere der Ukraine.

Die zeitliche Entwicklung lässt sich bereits vor dem Ukrainekrieg einzelnen Krisen zuordnen. So sind aufgrund der schwierigen Situation in vielen EU-Ländern in den Jahren 2010 – 2015 viele EU-Ausländer nach München gekommen. Auch die Flüchtlingskrise 2015 spiegelt sich – etwas schwächer – in der Blaufärbung der Zuwanderung von Personen aus Asien und Afrika wieder.

Der Demografiebericht enthält nicht nur eine detaillierte Analyse des Istzustands, sondern auch eine Prognose bis 2040. Das ist von erheblicher Bedeutung für die Stadtplanung, beispielsweise für den Schulbau. Alle Details dieser Vorhersage zu erläutern, würde diesen Bericht sprengen.

Insgesamt wird der Tannenbaum bis 2040 noch ausgeprägter:

Vergleich von Istzustand und Prognose für 2040 (Quelle: Demografiebericht, Teil1)

Die Prognose geht davon aus, dass die Bevölkerung Münchens bis 2040 auf etwa 1,8 Mio wachsen wird (Istzustand 2022: 1,59 Mio). Das vorhergesagte Wachstum von mehr als 10.000 Personen pro Jahr wird in Zukunft etwa hälftig durch den Geburtenüberschuss und den Nettozuzug bestimmt. Allerdings sind bei letzterem die Unsicherheiten besonders groß, da sich akute Krisenereignisse wie Corona oder der Krieg in der Ukraine nicht vorhersagen lassen. Denkbar wäre auch, dass sich die wirtschaftliche Attraktivität der Stadt im Vergleich mit den Herkunftsländern verändert.

Die Unsicherheit der Prognose wurde auch im Ausschuss diskutiert. Brigitte Wolf von der LINKEN meldete deutliche Zweifel an dem vorhergesagten Wachstum an, da moderne Kommunikationsmöglichkeiten es beispielsweise im IT-Bereich ermöglichten, von überall aus zu arbeiten.

Ich bin nicht sicher, ob sich dieser Bremseffekt wirklich zeigen wird. Zum einen machen IT-Berufe nur einen Teil der „Gravitationswirkung“ Münchens in der Altersgruppe zwischen 18 und 30 aus. Studierende der beiden großen Universitäten werden auch in Zukunft versuchen, in der Stadt eine WG oder ein Zimmer zu finden, ebenso wie Auszubildende der Münchner Unternehmen. Zum anderen scheint es mir, dass junge Leute in diesem Lebensabschnitt sehr gerne in München leben, mit seiner vergleichsweise jungen Bevölkerung, dem enormen Kulturangebot und den einzigartigen Freizeitmöglichkeiten (Isar, Berge, Seen, etc.).

Für bedenkenswert halte ich die Anmerkungen von OB Dieter Reiter in der Ausschusssitzung. Wenn die Bevölkerung bis 2040 voraussichtlich um mehr als 200.000 Personen wächst, müsse weiterhin mit aller Anstrengung daran gearbeitet werden, durch Neubau entsprechenden Wohnraum zu schaffen.

Hinzuzufügen wäre aus meiner Sicht, dass weiterhin alle Register einer mieterfreundlichen Kommunalpolitik gezogen werden müssen, wie Erhaltungssatzungen, sektorale Bebauungspläne, Stärkung der kommunalen Wohnungsbaugesellschaften, städtische Entwicklungsmaßnahmen und vieles mehr, was sich preisdämpfend auf den Wohnungsmarkt auswirkt. In Anbetracht der aktuellen Münchner Mieten sind diese Maßnahmen auch dann sinnvoll, wenn die Prognose nicht stimmen sollte und das Bevölkerungswachstum bis 2040 tatsächlich geringer ausfällt oder ganz ausbleibt.

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