Wir befinden uns in einer Energiekrise. Der Blick auf die Nebenkostenabrechnung – jedenfalls die kommende – zeigt, dass die Heizkosten sich gerade vervielfachen, unabhängig davon, welcher Energieträger (Öl, Erdgas, Fernwärme, etc….) zum Einsatz kommt. Bislang ist aus der Energiekrise keine Versorgungskrise geworden. Noch kommt der Strom aus der Steckdose und das Gas aus der Leitung. Aber die unvorhersehbaren Handlungen von Wladimir Putin im Rahmen seines Angriffskrieges gegen die Ukraine könnten schon in den nächsten Tagen zu einem völligen Stopp der Gaslieferungen nach Deutschland führen.
Vor diesem Hintergrund hat die CSU-Fraktion im Stadtrat zum wiederholten Male den Antrag gestellt, der Oberbürgermeister solle sich auf Bundesebene für eine längere Laufzeit des Kernkraftwerks Isar 2 einzusetzen. In der heutigen Vollversammlung des Stadtrates gab es dazu eine intensive Debatte mit jeder Menge Schuldzuweisungen. Daneben waren aber auch interessante Argumente zum Für und Wider eines Weiterbetriebs des letzten Atomkraftwerks in Bayern zu hören. Darüber soll im Folgenden berichtet werden, zusammen mit ein paar eigenen Gedanken, was in dieser schwierigen Lage der richtige Weg sein könnte.
Die Begründung des CSU-Antrages liest sich wie folgt:
„Wenn das Kernkraftwerk Isar 2 [….], nicht zum 31.12.2022 abgeschaltet würde, sondern weiterlaufen könnte, würde dies im bayerischen Raum die Stromversorgung deutlich stützen und könnte den Gasbedarf im Bereich der Stromerzeugung signifikant reduzieren. [….] Ein aktuelles Gutachten des TÜV Süd, welches im Auftrag des bayerischen Umweltministeriums erstellt wurde, [hat] ergeben, dass es aus sicherheitstechnischer Sicht keine Bedenken gegen eine Laufzeitverlängerung gäbe …[…].“
Zunächst einmal fragt man sich, was der Münchner Stadtrat damit zu tun hat. Denn für die Energiepolitik ist in erster Linie die Bundesregierung zuständig. Allerdings ist die Stadt München in einer besonderen Situation, denn ihr gehören 25 Prozent von Block 2 des Kraftwerks („Isar 2“ ). Als Minderheitseigentümerin hat die Stadt zwar keine Entscheidungsmacht – die liegt bei den genehmigenden Bundesbehörden und beim Mehrheitseigner, dem E.ON Konzern – aber sie müsste zumindest angehört werden.
Die obige Antragsbegründung klingt auf den ersten Blick einleuchtend. Wenn Gas knapp ist, sollte so wenig wie möglich zur Stromerzeugung eingesetzt werden. Da liegt es nahe, Isar 2 selbst bei grundsätzlichen Bedenken gegen die Kernkraft vorläufig weiter zu betreiben.
Zu klären ist allerdings, ob Isar 2 bei einem Weiterbetrieb tatsächlich die Stromversorgung „deutlich stützt“ und den Gasbedarf zur Stromerzeugung „signifikant reduziert“ . Solche Aussagen über technische Sachverhalte ohne Zahlen machen mich immer misstrauisch. Häufig werden damit Eindrücke erzeugt, die einer genaueren Betrachtung nicht standhalten. Im Einzelnen:
In der Debatte hat der CSU-Fraktionsvorsitzende Manuel Pretzl auf das bereits oben genannte TÜV-Gutachten verwiesen. Danach könnten bei einem Weiterbetrieb des Kraftwerks mit den bestehenden Brennstäben über einen Zeitraum von acht Monaten (Januar bis August 2023) insgesamt 5160 Gigawattstunden Strom erzeugt werden. Das sei viel, meint Herr Pretzl. Aber ist das wirklich ein relevanter Anteil an der gesamten Stromerzeugung?
Das folgende Schaubild zeigt die gesamte Stromerzeugung in Deutschland und den aktuellen Anteil der Kernenergie in den letzten drei Monaten:
Während die Gesamtleistung der Stromerzeugung zwischen 50 GW und 70 GW schwankt, beträgt die aktuelle Leistung der Kernkraftwerke im Maximum etwas weniger als 4 GW.
Rechnet man die angegebenen 5160 Gigawattstunden Strom über einen Zeitraum von acht Monaten in Leistung um (5160 GWh / 5760h) , erkennt man, dass der mögliche Betrag von Isar 2 zur Stromversorgung ab 2023 bei etwas unter 0,9 GW liegt. Das sind gerade einmal 1,5% der gesamten Stromerzeugung.
Wie verhält sich das zur Gasverstromung? Auch hier ist der Ausgangspunkt eine Betrachtung des Istzustandes:
Um dieses Erdgas geht es. Es soll eingespart werden, damit es im Winter zum Heizen von Privathaushalten und für die Industrie zur Verfügung steht. Wie man sieht, schwankt die Leistung aus Erdgasverstromung – die bedarfsgerechte flexible Nutzung war ja bis zum Ukrainekrieg der große Vorteil dieses Energieträgers – und liegt im Mittel bei etwa 10 GW. Will man also komplett auf die Verstromung von Erdgas verzichten, fehlen diese 10 GW bei der Stromerzeugung. Die obigen Zahlen zur zukünftigen Leistung von Isar 2 liegen bei 0,9 GW. Das ist weniger als 10% der im Mittel durch Erdgas erzeugten Leistung.
Als Zwischenergebnis ist festzuhalten:
- die „deutliche Stützung“ der Stromversorgung durch einen Weiterbetrieb von Isar2 liegt bei nur etwa 1,5%.
- die „signifikante Reduktion“ des Gasbedarfs zur Stromerzeugung durch Isar2 liegt unter 10%.
In der Debatte hat der ÖDP-Stadtrat Tobias Ruff noch auf ein grundsätzliches Problem beim Ersatz von Strom aus Erdgas durch Atomstrom hingewiesen: Die meisten Gaskraftwerke, insbesondere in München, erzeugen parallel zum Strom auch Fernwärme (Kraftwärmekopplung). Würde der Strom aus diesen Kraftwerken durch Atomstrom ersetzt, würde im Winterhalbjahr die erforderliche Heizleistung für die Münchner Fernwärme fehlen. Denn die kann Isar 2 nicht bereitstellen.
Was ist die Alternative? In der heutigen Sitzung hat es etwas gedauert, bis zumindest die SPD-Fraktion im Stadtrat klar benannt hat, dass sie eine verstärkte Kohleverstromung kurzfristig für die bessere Option hält – trotz der damit steigenden CO2-Emissionen, die niemand möchte. So hat es ja auch der grüne Wirtschaftsminister Habeck vor einigen Tagen zusammen mit der Ausrufung des Alarmzustands bei der Gasversorgung angekündigt. Im Stadtrat wollte sich jedoch niemand aus seiner Partei hinstellen und die Entscheidung für die Kohle rechtfertigen. Stattdessen gab es – aus meiner Sicht völlig berechtigt – Vorwürfe an die CSU, den Ausbau der erneuerbaren Energien immer wieder behindert zu haben.
Nur hilft das bei der Beantwortung der Frage, was in der aktuellen Notlage der richtige Weg ist, nicht weiter. Im Folgenden werden daher auch ein paar Zahlen zur Kohleverstromung in Deutschland diskutiert. Die aktuelle Situation zeigt folgendes Schaubild:
Man sieht unmittelbar, dass der Leistungsbeitrag der Kohleverstromung ungleich größer ist als beim Erdgas und erst recht bei der Kernenergie. Die Leistung des Kohlestroms schwankt bislang je nach Bedarf zwischen 7 und 25 GW. Der mögliche Beitrag von 0,9 GW von Isar 2 ist demgegenüber vernachlässigbar. Für den Ersatz der im Mittel etwa 10 GW Leistung der Erdgasverstromung braucht es daher keinen Weiterbetrieb von Isar 2. Das schafft die Kohle alleine. Anders als der Atomstrom kommt bei der Kohleverstromung auch Kraftwärmekopplung zum Einsatz. Wie bereits in einem anderen Beitrag ausgeführt, liefert beispielsweise das mit Kohle befeuerte Heizkraftwerk im Münchner Norden fasst die Hälfte der Fernwärme für München.
Offensichtlich sprechen auch wirtschaftliche Gründe, d.h. hohe Kosten, gegen den Weiterbetrieb von Isar 2. Wie der Leiter der Stadtwerke, Dr. Florian Bieberbach, in der Sitzung erläuterte, hat sich auch die Mehrheitseigentümerin, der E.ON Konzern, gegen einen Weiterbetrieb ausgesprochen.
Schließlich ist der Weiterbetrieb des Kernkraftwerkes nicht ohne Risiko. Das bereits erwähnte Gutachten des TÜVs lässt erkennen, dass die alle zehn Jahre stattfindende große Sicherheitsüberprüfung, die eigentlich 2019 fällig war, in Anbetracht des nahen Laufzeitendes ausgesetzt worden ist. Der TÜV meint nun, dass bei einem Weiterbetrieb die erforderlichen Prüfungen auch ohne die sonst übliche Abschaltung betriebsbegleitend durchgeführt werden könnten. Ansonsten gelte folgende Überlegung:
Um die Aussagekraft dieser Einschätzung zu bewerten, fehlen mir die Fachkenntnisse. Aber von einem abgeschalteten Kernkraftwerk gehen sicher weniger Risiken aus als von einem Kraftwerk, das in einem verlängerten Betrieb und mit veränderten Überprüfungen gefahren wird.
Im Ergebnis halte ich daher die mit der grün-roten Mehrheit beschlossene Ablehnung des CSU-Antrages für richtig. Für den – hoffentlich begrenzten – Zeitraum der gegenwärtigen Energiekrise ist der Weiterbetrieb von Isar 2 nicht die richtige Lösung. Die verfügbare Leistung ist viel zu gering. An einer kurzfristigen Steigerung der Kohleverstromung führt kein Weg vorbei.
Nicht beantworten kann ich allerdings die naheliegende Frage, warum die Entscheidung zur verstärkten Kohleverstromung erst jetzt, vier Monate nach Kriegsbeginn, kommt. Das kann politische oder technische Gründe haben. Möglicherweise wird uns das in diesem Zeitraum verstromte Erdgas im kommenden Winter noch bitter fehlen.