In Krisen muss man auf neue Umstände reagieren. Strategien, die gestern noch richtig waren, sind heute nicht mehr sinnvoll, wenn sich wesentliche Voraussetzungen geändert haben. So waren die harten Coronamaßnahmen am Anfang der Pandemie ebenso nötig, wie sie jetzt falsch wären. Dank der Impfung ist das Krankheitsrisiko inzwischen viel niedriger als in 2020.
Gleiches gilt in der aktuellen Gaskrise. Neue Entwicklungen verlangen das Überdenken bislang gefasster Beschlüsse. Ein aktuelles Beispiel aus München ist die überraschende Verlautbarung der Stadtwerke München (SWM), dass im kommenden Winter die Fernwärme in München grundsätzlich ohne den Betrieb der Gaskraftwerke der SWM erzeugt werden kann. Bislang galt die Annahme, dass diese Gaskraftwerke durchgehend laufen müssten, damit es in den mit Fernwärme geheizten Wohnungen Münchens nicht kalt wird, vgl. hier.
Vor diesem Hintergrund haben die Fraktionen der grün-roten Rathauskoalition ihre Meinung zum Weiterbetrieb des Atomkraftwerks Isar 2 geändert und in der Vollversammlung am vergangenen Mittwoch erklärt, dass sie einem begrenzten Weiterbetrieb im Grundsatz zustimmen können. Welche Überlegungen diesem Umschwung zugrunde liegen, und welche Unklarheiten es dabei noch gibt, soll nachfolgend erläutert werden.
Die neue Analyse zur Fernwärmeversorgung durch die Stadtwerke ist zunächst einmal eine gute Nachricht, denn dadurch kann Gas eingespart werden, das an anderer Stelle dringend benötigt wird, beispielsweise in der Industrie oder zum Heizen von Wohnungen ohne Fernwärmeanschluss. Um zu verstehen, welche Rückwirkungen der Verzicht auf die Gaskraftwerke für den umstrittenen Weiterbetrieb von Isar 2 hat, muss man einen Blick auf den Münchener Kraftwerkspark werfen. Wesentlich sind dabei insbesondere die größten drei Kraftwerke, zu denen man folgende Daten bei Wikipedia findet:
Dieses Kraftwerk wird mit Erdgas betrieben und erzeugt laut Wikipedia maximal 814 Megawatt (MW) Fernwärmeheizleistung. Als Heizkraftwerk erzeugt es auch Strom und zwar maximal knapp 700 MW.
Hier kommt in erster Linie Kohle und Restmüll zur Verbrennung. Die Fernwärmeleistung beträgt 900 MW. Auch hier wird gleichzeitig Strom erzeugt, maximal etwas mehr als 400 MW.
Wie im Heizkraftwerk Süd wird hier Erdgas als Brennstoff verwendet. Die Leistung ist allerdings geringer. Neben maximal 125 MW Heizleistung für die Fernwärme können die zwei Gasturbinen dieses Kraftwerks etwa 100 MW Strom bereitstellen.
Zusätzlich verfügen die SWM in München über eine Anzahl kleinerer Kraftwerke, die Strom mit Wasser, Wind, etc. erzeugen. Für die nachfolgenden Betrachtungen sind diese Kleinkraftwerke – leider – vernachlässigbar.
In einer Sitzung des Aufsichtsrates kurz nach der Vollversammlung des Stadtrates im Juni haben die Vertreter der Stadtwerke überraschenderweise erklärt, dass die Fernwärmeversorgung an einem normalen Wintertag auch ohne die Heizleistung der beiden mit Gas befeuerten Heizkraftwerke (Süd und Freimann) gesichert werden könnte. Neben dem Heizkraftwerk Nord kämen dazu verschiedene Heizkessel in der Stadt zum Einsatz, die mit Erdöl befeuert werden könnten. Warum diese Berechnung der Heizlast der Fernwärme nicht schon vorher, insbesondere vor der letzten Vollversammlung, möglich war, ist nicht bekannt. Auch gibt es bislang keine öffentliche Unterlagen dazu.
Der Zusammenhang mit Isar 2 entsteht dadurch, das beim Abschalten der beiden Gaskraftwerke etwa 800 MW Leistung bei der Stromerzeugung fehlen, vgl. die obigen Leistungsangaben. Wie der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Dominik Krause, in der Vollversammlung zu Recht in Erinnerung gerufen hat, kann Windstrom aus Norddeutschland (den auch die SWM dort erzeugen) diese fehlende Leistung im Stromnetz in Bayern bislang nicht ersetzen. Denn die erforderlichen Leitungen sind aufgrund des jahrelangen Widerstandes der CSU bis heute nicht fertiggestellt.
Als Ersatz für den Strom aus den beiden Gaskraftwerken kommt zur Überbrückung ein Weiterbetrieb von Isar 2 in Betracht. Wie bereits im letzten Bericht ausgeführt, könnte laut einem Gutachten des TÜVs dieses Atomkraftwerk für einige Monate ohne Austausch der Brennstäbe etwa 900 MW Strom liefern. Damit wäre der Ausfall der beiden Münchner Gaskraftwerke kompensiert.
Selbst wenn man Bedenken gegen die Atomenergie hat, erscheinen diese Überlegungen in der aktuellen Gasmangellage stichhaltig. Allerdings soll die Stabilität des Stromnetzes in Deutschland und insbesondere in Bayern in den nächsten Wochen noch mit sogenannten „Strommodellen“, d.h. Simulationen zur Stromerzeugung und zum Stromverbrauch im Winter 22/23, im Detail überprüft werden.
Ein Gesichtspunkt, der dabei auch noch eine Rolle spielen wird, ist der Export von Strom nach Frankreich, da dort viele Atomkraftwerke zur Zeit wegen Wartungsarbeiten nicht am Netz sind. Normalerweise ist das Verhältnis mit Frankreich nahezu ausgeglichen, d.h. es wird im zeitlichen Mittel genauso viel Strom importiert wie exportiert. Zuletzt ist das jedoch anders geworden, wie man an dieser Grafik erkennen kann:
Ob der Weiterbetrieb von Isar 2 über 2022 hinaus erforderlich ist, lässt sich somit erst entscheiden, wenn klar ist, wieviel Strom im Winter im europäischen Verbundnetz und insbesondere in Bayern voraussichtlich zur Verfügung steht und wie sich der Strombedarf aufgrund der Gaskrise entwickeln wird.
Auf dieser Grundlage sind am Ende die Sicherheitsbedenken gegen den Weiterbetrieb von Isar 2 gegen die Gefahr eines Stromausfalls abzuwägen.