Eine Frage der Abwägung

Bereits im Herbst 2020 habe ich hier über eine Sitzung des Kinder- und Jugendausschusses zu den Folgen von Corona berichtet. Damals habe ich mich gefragt, was sich aus der großen Betroffenheit über die dramatischen Auswirkungen des ersten Lockdowns für Kinder und Jugendliche für die Zukunft ergibt. Diese Frage ist inzwischen beantwortet: (Fast) nichts. Nach halbherzigen Versuchen, den Schulbetrieb bei steigenden Inzidenzzahlen aufrecht zu erhalten, ist dasselbe passiert wie im Frühjahr 2020. Das normale Leben der Kinder und Jugendlichen ist über ein halbes Jahr lang den strikten Maßnahmen zur Senkung der Inzidenz zum Opfer gefallen. Eine altersabhängige Differenzierung der Corona-Maßnahmen gab und gibt es bis auf wenige Ausnahmen nicht.

Das sind keine Entscheidungen des Münchner Stadtrates oder seiner Ausschüsse gewesen. Es ist die Folge der Corona-Strategie des Freistaats und des Bundes. Dennoch hat der Kinder- und Jugendhilfeausschuss des Münchner Stadtrates am vergangenen Dienstag auf Antrag der SPD und der Grünen einmal mehr dieses Thema aufgegriffen. Im Rahmen einer umfangreichen Expertenanhörung wurden Vertreterinnen von Kinderärzten und der Schulverwaltung sowie einige Kinder und Jugendliche angehört. Damit sollten die Stadträtinnen und Stadträte einen Eindruck der Lage bekommen und Anregungen erhalten, was die Stadt München unternehmen kann, um die Situation zu verbessern. Die Ergebnisse werden in naher Zukunft in eine Beschlussvorlage des Sozialreferats einfließen.

Während die erwachsenen Experten direkt vor Ort mit den Ausschussmitgliedern diskutieren konnten, wurden die Kinder und Jugendliche nur online zugeschaltet – mit den üblichen Begleiterscheinungen wie schlechter Bild- und Klangqualität bis zum völligen Tonausfall. Sollte das eine Infektionsschutzmaßnahme sein oder bestand die Vermutung, dass die acht teilnehmenden Kinder und Jugendlichen nach Monaten im Homeschooling ungehemmter in die Kamera reden als direkt zu den Stadträtinnen und Stadträten? Ich weiß es nicht. Es war jedenfalls für den Informationsaustausch nicht förderlich.

Inhaltlich sind die Ergebnisse der Anhörung nicht überraschend. Alles, was im Bericht im Herbst 2020 bereits angesprochen worden ist, gilt jetzt erst recht, da der Ausnahmezustand für die Kinder und Jugendlichen inzwischen über viele Monate andauert. So haben Vertreterinnen der Kinderärzte in München darüber berichtet, dass insbesondere in der dritten Welle die Anzahl verhaltensauffälliger Kinder stark angestiegen ist. Sie seien vielfach in einem Zustand, der eine Teilnahme am gerade wiederaufgenommenen Schulbetrieb nicht zulässt. Sämtliche Therapieplätze in München sind bereits für die beiden nächsten Jahre ausgebucht. Und wieder trifft es dabei am meisten diejenigen, die ohnehin aus schwierigen Verhältnissen kommen.

Die Berichte der Kinder selbst waren erschreckend, wenn beispielsweise zwei Mädchen aus einem Münchner Kinderheim erzählen, dass über Monate nur noch ganz wenige, kurze Besuche ihrer Verwandten erlaubt waren. Der Tenor der Berichte der Kinder und Jugendlichen war, dass ihre Situation bei der Pandemiebekämpfung einfach vergessen worden ist.

Das glaube ich nicht. Vergessen hat hier niemand etwas, denn die schlimmen Folgen von Schulschließungen, strikten Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren für Kinder und Jugendliche sind nach dem ersten Lockdown bereits in aller Breite diskutiert worden. Nein, es war eine ganz bewusste Abwägungsentscheidung, das Gesundheitsrisiko der Generation 60+ immer wieder höher zu gewichten als die psychischen und sozialen Risiken für die kommende Generation. Damit tragen Kinder und Jugendliche eine enorme Last bei der Bekämpfung einer Krankheit, die sie selbst nicht betrifft.

Ein paar Fakten dazu aus der aktuellen Stellungnahme der Ständigen Impfkommission (STIKO). Das altersabhängige Risiko, ursächlich an Corona zu versterben, zeigt folgende Tabelle:

Quelle: Aktuelle Stellungnahme der STIKO

Wie man sieht, sind die Opferzahlen bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren extrem niedrig – viel viel niedriger als bei anderen Gefahren für Kinder und Jugendliche wie beispielsweise dem Straßenverkehr. Im Gegensatz dazu liegt der Prozentsatz der Generation 60+ bei fast 96% der ursächlich an Corona Verstorbenen. Anders ausgedrückt ist das Coronarisiko eines über 60-jährigen mehr als 8000-fach höher als eines 15-jährigen (vgl. die letzte Zeil der Tabelle). Die STIKO leitet daraus ab, dass es – zumindest gegenwärtig – zum Schutz der Kinder und Jugendlichen im Regelfall keine Veranlassung für eine Impfung und die damit verbundenen Risiken gibt. Das ist hier jedoch nicht das Thema.

Diese Zahlen bestätigen die obige Aussage, dass Kinder und Jugendliche Maßnahmen ertragen mussten und immer noch müssen, die nicht zu ihrem Schutz, sondern zum Schutz der Generation ihrer Großeltern erlassen worden sind. Dafür sollte man den Kindern und Jugendlichen zunächst einmal sehr dankbar sein und viel Verständnis aufbringen, falls es doch einmal zu Regelverstößen kommt. Wenn, wie in der Anhörung von Jugendlichen berichtet, beispielsweise drei junge Mädchen aus verschiedenen Haushalten im Freien beieinander stehen und das zu Bußgeldern von mehreren hundert EUR pro Person führt, fragt man sich, ob beim Verordnungsgeber, dem bayrischen Freistaat, alle Maßstäbe der Verhältnismäßigkeit verloren gegangen sind.

Die Folge ist – auch das wurde in der Anhörung deutlich – ein in weiten Teilen zerrüttetes Verhältnis vieler Jugendliche zu dem Staat, in dem sie aufwachsen. Polizeikräfte werden vielfach nicht als „Freund und Helfer“ betrachtet, sondern als Bedrohung des natürlichen Bedürfnisses, sich mit anderen Jugendlichen auszutauschen. Hier wird es mehr brauchen als den Hinweis des bei der Anhörung anwesenden Polizeivertreters, dass von der Politik festgelegte Regeln nun mal auch von Jugendlichen befolgt werden müssen. Im Gegenteil, spätestens jetzt, wo ein Großteil der Maßnahmen aufgehoben ist, bräuchte es umfangreiche Gesprächsangebote, um bei den Jugendlichen um Verständnis dafür zu bitten, dass die Polizei nicht anders kann, als Vorschriften der Landes- und Bundespolitik durchzusetzen. Das wäre vielleicht einer der ersten Schritte, die die Stadt München gemeinsam mit dem Polizeipräsidium in diesem Sommer angehen sollte.

Und sonst? Die Frage ist die gleiche wie bereits im Herbst 2020. Werden wir, wenn die Inzidenz nach dem Sommer wieder steigt, im Namen des Infektionsschutzes erneut die Polizei losschicken, um Kinder und Jugendliche auseinanderzutreiben und die Schulen und alle Freizeitangebote schließen? 30 Mio Bürgerinnen und Bürger über 60 in diesem Land sind gegenüber 18 Mio Kindern und Jugendlichen klar in der Mehrheit. Da bleibt wenig Hoffnung. Allenfalls die Impfung wird das verhindern können. Eine andere Abwägung ist nicht zu erwarten.

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