Wieder einmal sind die Beratungen zum Thema Corona des Stadtrats ein Anlass für mich, Informationen und Gedanken zur aktuellen Situation in München zusammenzustellen. Um es kurz vorab zu sagen: Nach einem Jahr der Pandemie liegt das Maximum der zweiten Welle hoffentlich hinter uns, denn viele Kennzahlen sinken. Hingegen könnte die Lernkurve, wie man Risiken durch Corona wirksam verringern kann, noch ansteigen, nicht nur auf Bundes- und Landesebene, sondern auch bei der Verwaltung der Stadt München.
Die nachfolgende Darstellung orientiert sich am Vortrag des Leiters der Branddirektion Wolfgang Schäuble und der nachfolgenden Diskussion im Stadtrat in der Vollversammlung am vergangenen Mittwoch.
1. Die Inzidenz
Der Verlauf der Inzidenz in München zeigt dieses Bild:
Die aktuelle Inzidenz (<70) ist inzwischen niedriger als in der Spitze der ersten Welle (~100). Ihr Rückgang um zwei Drittel innerhalb eines Monats ist in etwa genauso stark wie im April.
2. Die Situation in den Kliniken Münchens
Auch hier zeigt sich eine positive Entwicklung, vgl. das Diagramm, das Herr Schäuble in seinem Vortrag gezeigt hat.
Auf den Normalstationen ist die Belegung mit Corona-Patienten seit Weihnachten um mehr als die Hälfte zurückgegangen. Auf den Intensivstationen sinken die Zahlen etwas langsamer, von in der Spitze ca. 180 auf jetzt unter 100. Das liegt immer noch weit über den Zahlen aus der ersten Welle.
3. Todesfälle
Keine klaren Daten gibt es zum zeitlichen Verlauf der am Coronavirus verstorbenen Münchner. Zwar werden seit einigen Tagen hier Zahlen veröffentlicht. Auf Nachfrage in der Vollversammlung hat die Leiterin des Gesundheitsreferats, Beatrix Zurek, aber auf große Unsicherheiten und Verzögerungen bei diesen Angaben verwiesen. Ein Rückgang der Mortalität ist jedenfalls (noch) nicht zu erkennen.
Die Altersverteilung der bislang etwa 800 Todesfälle war nicht Gegenstand der Präsentation im Stadtrat. Allerdings findet man diese Information auf muenchen.de. Hier die aktuelle Grafik:
Diese Daten erscheinen mir wichtig – insbesondere zur Einordnung der weiteren Diskussion in der Vollversammlung (siehe unten unter 6.)
4. Kontaktnachverfolgung
Inzwischen hat die Stadtverwaltung ein Team aus mehr als 400 Personen zur Kontaktnachverfolgung aufgebaut, darunter 148 Soldaten der Bundeswehr. Wie Herr Schäuble ausgeführt hat, ist damit der angestrebte Schlüssel von 5 Mitarbeitern pro 20.000 Einwohner erreicht und das Team voll einsatzfähig.
Leider gab es keine Aussage darüber, ob mit diesem Team vielleicht jetzt schon, bei einer Inzidenz von etwa 70, die Nachverfolgung gelingt. Auch vom Stadtrat wurde diese Frage nicht gestellt. Eine 7-Tage Inzidenz von 70 führt in München zu etwa 150 Neuinfektionen pro Tag. Das bedeutet, dass 2-3 Mitarbeiter einen Tag lang Zeit haben, um alle Kontakte eines Coronafalls zu erreichen und gegebenenfalls unter Quarantäne zu stellen. Das sollte zu schaffen sein, vorausgesetzt, der/die Infizierte kann (und will) sich an alle Kontakte erinnern. Diese Voraussetzung hängt allerdings nicht von der Inzidenz ab.
5. Impfungen
Die Impfverordnung des Bundesgesundheitsministeriums definiert drei Gruppen erhöhter Priorität für das Impfen:
Diese Priorisierung geht auf die Empfehlungen der ständigen Impfkommission (STIKO) zurück. Ihre Begründung dafür ist ein lesenswertes Dokument mit einer Gesamtdarstellung aller aktuellen Erkenntnisse über COVID 19, einschließlich der zugelassenen Impfstoffe. Anders als viele Corona-Maßnahmen berücksichtigen die Empfehlungen der STIKO die extreme Altersabhängigkeit des Risikos (vgl. die Abbildung oben). Zusätzlich hat das bayrische Gesundheitsministerium festgelegt, dass innerhalb der Gruppe 1 Impfungen vorrangig in Pflegeheimen stattfinden sollen.
Laut Herrn Schäuble fallen in die Prioritätsgruppe 1 in München bereits 120.000 Personen, von denen bislang nur etwa 10% geimpft werden konnten. Warum ist das so? Größtes Problem ist natürlich der fehlende Impfstoff. Gegenwärtig können aufgrund der Liefersituation nur etwa 1000 Personen pro Tag geimpft werden. Die bereits vorhandenen Impfzentren Münchens sind auf 40.000 Impfungen pro Tag ausgelegt und auch diese Zahl könnte – wenn genug Impfstoff vorhanden wäre – noch gesteigert werden.
Aber auch die Logistik der Impfstoffverteilung durch den Freistaat ist problematisch. So wird beispielsweise der Moderna-Impfstoff in einem Zustand vom Freistaat geliefert, der – zur Vermeidung von Erschütterungen – innerhalb der Stadt keinen weiteren Transport zulässt, was die Versorgung der Altenheime mit diesem Impfstoff quasi unmöglich macht. Die Verteilung der Impfdosen in Bayern ist nach Aussage von Herrn Schäuble bislang auf den ländlichen Raum ausgerichtet und muss für München (und andere Großstädte) noch angepasst werden. Entsprechende Gespräche mit dem bayrischen Gesundheitsministerium sind im Gange.
Leider war nicht zu erfahren, ab wann mit einer Durchimpfung der Altenheime der Stadt zu rechnen ist. Für die weitere Strategie, insbesondere beim Testen, wäre das eine wesentliche Information (siehe nächster Abschnitt).
6. Münchens Teststrategie
Nach der geltenden 11. Bayrischen Infektionsschutzverordnung muss das Personal von stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen sich „mindestens an drei verschiedenen Tagen pro Woche“ einem Test unterziehen. Im Dezember hat die Münchner CSU-Fraktion beantragt, diese Testpflicht in München auf ein tägliches Testen auszudehnen. In der Vollversammlung wurde der Antrag vom stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Prof. Theiss in einer engagierten Rede mit dem großen Infektions- und Sterberisiko der hochbetagten Heimbewohner begründet. Ziel aller Maßnahmen müsse es sein, die Mortalität von Corona in München so schnell wie möglich zu senken. Die Stadt übertreffe auch in vielen anderen Bereichen der sozialen Fürsorge die Vorgaben des Freistaates und man könne sich nicht auf die Mindestanforderungen der geltenden Infektionsschutzverordnung zurückziehen.
Prof. Theiss – als Mediziner vom Fach – hat dazu bereits Anfang Dezember einen lauten „Wutausbruch“ in den sozialen Medien an seinen Parteifreund Markus Söder gerichtet:
„Ich habe bisher aus parteiinterner Loyalität geschwiegen, aber was zu viel ist, ist zu viel. Bei allem Respekt vor Amt und Person – im Kampf gegen Corona brauchen wir weniger Herrenchiemsee und mehr Ehrlichkeit bzw. politische Treffsicherheit. [……] Hier [in den Heimen] gibt es bis jetzt keine schlüssigen Sicherheits- und Testkonzepte. Ab heute zweimal Mitarbeitertesten pro Woche kann doch nicht unser Ernst und nicht alles sein.“
Leider ist er damit nicht durchgedrungen, denn die geforderten schlüssigen Sicherheitskonzepte gibt es in Bayern weiterhin nicht. Zwar muss inzwischen dreimal pro Woche getestet werden, aber die Vorschrift verlangt nicht einmal, dass diese Tests gleichmäßig über die Woche verteilt werden. Die Folge sind nach einem Jahr Pandemie fast 4000 verstorbene Heimbewohner, etwa die Hälfte aller Coronatoten im Freistaat.
Der CSU-interne Frieden ist dann wohl dadurch wiederhergestellt worden, dass mit dem vorliegenden Antrag nunmehr die Stadt München in die Verantwortung genommen werden soll, das tägliche Testen des Pflegepersonals in den Heimen der Stadt sicherzustellen . Der Stadtrat hat diesen Antrag jedoch abgelehnt und ist mehrheitlich den Argumenten der Leiterin des Gesundheitsreferats in der Vollversammlung gefolgt, wonach
– dreimaliges Testen pro Woche ausreichend sei;
– tägliche Tests von den Heimen nicht durchgeführt werden könnten; und
– die strikte Umsetzung von Hygienekonzepten in den Heimen ohnehin wichtiger sei, worauf in Zukunft verschärft geachtet werde.
Aus meiner Sicht ist dieses Ergebnis höchst bedauerlich. Es zeigt wie unter einem Brennglas, woran es bei der wirksamen Bekämpfung des gefährlichen Virus fehlt, nämlich der Fähigkeit der staatlichen Verwaltung, nicht nur mit allgemein gültigen Verboten, sondern auch mit eigenem Verwaltungshandeln flexibel und gezielt auf die Anforderungen der Pandemie zu reagieren. Wie schlimm Corona in Pflegeheimen wütet, ist seit der ersten Welle im Frühjahr bekannt. Auch auf diesen Seiten ist auf die fehlenden Tests immer wieder verwiesen worden (vgl. hier und hier). Sowohl der Freistaat als auch das Gesundheitsreferat der Stadt München ignorieren mit ihrer lückenhaften Teststrategie für Heime grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse und werden damit ihrer Verantwortung für die Gesundheit der Heimbewohner nicht gerecht. Im Einzelnen:
Drei Schnelltests pro Woche sind nicht ausreichend. Das kann man sich anhand folgender Grafik leicht überlegen:
Wird ein infizierter Pfleger beispielweise am 3. Tag seiner Infektion mit einem Schnelltest getestet, kann die Viruslast, die die Gefahr einer Ansteckung bestimmt, noch unter der Detektionsgrenze liegen. Am nächsten Tag (4. Tag im Schaubild oben) ist diese Person jedoch bereits hochansteckend. Erfolgt jetzt kein neuer Schnelltest, wird die Infektion ins Heim getragen. Prof. Drosten hat daher in seinem bekannten Podcast immer wieder darauf hingewiesen, dass die Aussagekraft eines Schnelltest auf maximal 24h begrenzt ist.
Es führt daher kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass mit der Testung nach der geltenden bayrischen Infektionsschutzverordnung viele Infektionen unentdeckt bleiben – mit den bekannten tödlichen Folgen.
Schaffen es die Pflegeheime jeden Tag zu testen? Wohl kaum, denn das häufig unterbesetzte Personal ist schon jetzt überlastet. Insoweit trägt das zweite Argument der Leiterin des Gesundheitsreferats. Aber Schnelltests könnten, wie Prof. Theiss zu Recht ausgeführt hat, auch von anderen Personen durchgeführt werden, beispielsweise Sanitätssoldaten oder Medizinstudenten. Das geht vielleicht nicht von heute auf morgen, aber das Problem der hohen Infektionszahlen in Pflegeheimen ist seit der ersten Welle im Frühjahr bekannt. Hier fehlt es ganz offensichtlich an der bereits oben genannten Flexibilität im Verwaltungshandeln, um kurzfristig nach unkonventionellen Lösungen zu suchen. Und wenn das in der Vergangenheit versäumt worden ist, sollte wenigstens jetzt damit begonnen werden, auch auf kommunaler Ebene.
Ist die Anwendung strenger Hygienekonzepte die bessere Lösung ? Jedenfalls nicht, wenn damit die ständige Desinfektion von Oberflächen gemeint ist. Hier ist die Wissenschaft längst zur der Einsicht gelangt, dass „Schmierinfektionen“ kein relevanter Übertragungsweg für den Coronavirus sind. Wer das nicht glaubt, findet den aktuellen Forschungsstand in diesem Aufsatz in „Nature“. Maßgeblich ist die Übertragung durch Tröpfchen und Aerosole. Das lässt sich zuverlässig nur durch tägliches Testen des Pflegepersonals ausschließen. Masken, auch FFP2 Masken, reichen dazu nicht aus.
Im Ergebnis ist die Entscheidung des Stadtrates, auf ein tägliches Testen zu verzichten, ein schwerer Fehler. Gleiches gilt für die insoweit mangelhafte Infektionsschutzverordnung des Freistaats. Es bleibt nur zu hoffen, dass das Impfen aller Heimbewohner in naher Zukunft abgeschlossen wird. Dann käme es auf die richtige Teststrategie nicht mehr an.