Ein verspäteter Vorschlag

Im Jahr 2021 hat die bayrische Staatsregierung eine schlaue Entscheidung getroffen: Sie hat die Zuständigkeit für die Einhaltung der Grenzwerte für Stickoxide und Feinstaub, die bislang beim Freistaat lag, auf die großen Städte Bayerns übertragen. Denn mit diesem Thema macht man sich keine Freunde. Den einen sind die Pläne nicht streng genug, weil die Schadstoffbelastungen nicht schnell genug sinken, den anderen gehen die erforderlichen Einschränkungen des Autoverkehrs zu weit.

Die Stadt München hat damit ein Problem geerbt, das bereits zur Androhung von Strafzahlungen der EU gegen Deutschland geführt hat, da die Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide seit Jahren überschritten werden. Zudem ist ein Klageverfahren der Deutschen Umwelthilfe anhängig, mit dem die Einhaltung der Grenzwerte durchgesetzt werden soll. Durch die Übertragung der Zuständigkeit ist die Stadt München anstelle des Freistaats Beklagte geworden. Ein aktuelles Urteil des Bayrischen Verwaltungsgerichtshofs stellt nun fest, dass die bisherigen Maßnahmen nicht ausreichen. Wie die Stadt auf diese Entscheidung reagieren soll, wurde in der Vollversammlung des Stadtrats am vergangenen Mittwoch diskutiert.

In einer 50-seitigen Vorlage hat das Mobilitätsreferat die Vorgeschichte und den aktuellen Sachstand zusammengefasst. Ein wichtiger Schritt zur angestrebten Verringerung der Schadstoffbelastungen war die 8. Fortschreibung des Luftreinhalteplans, der Anfang 2023 in Kraft getreten ist. Damit wurde zunächst ein allgemeines Fahrverbot für Fahrzeuge der Schadstoffklassen Euro 4/IV und schlechter für den Innenstadtbereich einschließlich des Mittleren Rings beschlossen. Ausnahmen gibt es u.a. für Anwohner und den Lieferverkehr. Eine zweite Stufe dieses Fahrverbotes auch für Fahrzeuge der Schadstoffklasse Euronorm 5/V war für den 1. Oktober 2023 vorgesehen, sollten die gemessenen Stickstoffoxidbelastungen nicht unterhalb des Grenzwertes von 40 μg/m³ liegen.

Nachdem es zunächst so aussah, als ob der Grenzwert an der Landshuter Allee – der Messstation mit den schlechtesten Werten – im Jahresmittel 2023 eingehalten würde, hat der Stadtrat beschlossen, die zweite Stufe des Fahrverbotes auszusetzen. Tragende Überlegung war, dass nach einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts eine nur noch geringfügige Überschreitung des Grenzwertes im Rahmen der Verhältnismäßigkeit ein weitergehendes Fahrverbot nicht rechtfertigen kann.

Dazu ein paar Zahlen aus der Vorlage: Während die erste Stufe für Fahrzeuge der Schadstoffklasse Euro 4/IV und schlechter in München etwa 20.000 Dieselfahrzeuge betrifft, steigt diese Anzahl bei einer Ausweitung des Fahrverbots auf Fahrzeuge der Schadstoffklasse 5/V auf über 60.000, die dann in die sogenannte Umweltzone im Innenstadtbereich und auf dem Mittleren Ring nicht mehr einfahren können (Anwohnerinnen und Anwohner der Umweltzone wären auch hier ausgenommen). Das sind eine Menge Betroffene. Hinzu kommt eine unbekannte Anzahl von Nutzern solcher Fahrzeuge, die nicht in München zugelassen sind, die aber ebenfalls von dem Fahrverbot betroffen wären.

Aktuelle Messungen haben jedoch gezeigt, dass ohne weitere Maßnahmen der Grenzwert von 40 μg/m³ auch in 2024 voraussichtlich nicht eingehalten wird. In 2023 lagen die Schadstoffbelastungen in der Landshuter Allee bei 45 μg/m³. Vor diesem Hintergrund hat der Bayrische Verwaltungsgerichthof in dem oben genannten Urteil festgestellt, dass

„….. der Luftreinhalteplan anlässlich der Überschreitung am Messpunkt Landshuter Allee LÜB um eine Maßnahme ergänzt werden muss, die ein streckenbezogenes oder zonales Fahrverbot auch für Dieselkraftfahrzeuge der Schadstoffklasse 5/V [….] vorsieht.“

Mit der Festlegung des Gerichts auf ein Fahrverbot für Fahrzeuge der Euronorm 5/V wollten sich Oberbürgermeister Dieter Reiter und die SPD-Fraktion im Stadtrat jedoch nicht abfinden. Stattdessen wurde einige Tage vor der Sitzung eine neue Idee eingebracht, wie die Schadstoffbelastung unter den gesetzlichen Grenzwert gesenkt werden könnte. Danach soll in Zukunft auf der Landshuter Allee zwischen Donnersberger Brücke und Olympiapark für alle Fahrzeuge Tempo 30 gelten.

In der Vollversammlung wurde dieser Vorschlag von der SPD-Fraktionsvorsitzende Anne Hübner so begründet:

  • für die Anwohner der Landshuter Allee sei nicht nur saubere Luft, sondern auch die Lärmreduzierung ein wichtiges Anliegen, das mit einer Temporeduzierung erreicht werden könne.
  • Eine Absenkung der Geschwindigkeit sei im Hinblick auf die Einhaltung der Grenzwerte auch erfolgversprechend. In der Leipziger Straße in Berlin sei damit die erforderliche Verringerung der Schadstoffbelastungen gelungen.
  • Besitzer von Fahrzeugen der Euronorm 5/V , die vor noch nicht einmal 10 Jahren als umweltfreundlich beworben worden seien, hätten ein Recht auf Vertrauensschutz, diese Fahrzeuge ungehindert benutzen zu können.
  • Die vom Mobilitätsreferat vorgeschlagene Stufe 2 mit dem Fahrverbot für Fahrzeuge der Euronorm 5/V und schlechter sei schwer durchsetzbar und werde deshalb in der Landshuter Allee nicht schnell wirksame Verbesserungen bringen.

Aus der CSU gab es dazu Zustimmung, nicht aber von den Grünen und der Leiterin des Referats für Klima und Umwelt (RKU). Dabei waren im Wesentlichen zwei Argumente zu hören, warum in der jetzigen Lage eine – an sich zu begrüßende – Beschränkung auf Tempo 30 in der Landshuter Allee nicht ausreiche:

  • Zum einen sei unklar, ob eine Tempobeschränkung überhaupt zu einer Verringerung der Stickoxidbelastung führen werde. In mehr als 60% der Zeit werde auf der überlasteten Landshuter Allee ohnehin Stop-and-Go gefahren, so dass die Geschwindigkeitsbegrenzung keinen Einfluss auf die Fahrzeugemissionen haben werde.
  • Zum anderen sei es im Lichte des Urteils des Bayrischen Verwaltungsgerichts schlicht zu spät für experimentelle Lösungen. Das Gericht habe klar festgelegt, wie die Schadstoffbelastung zu senken sei, nämlich mit einem Fahrverbot für Dieselfahrzeuge der Euronorm 5/V.

In der Debatte hat Oberbürgermeister Dieter Reiter zum zweiten Punkt klargestellt, dass er dieses Verständnis des Urteils teilt. Mit anderen Worten kann die „Last-Minute-Idee“ der SPD-Fraktion nur dann berücksichtigt werden, wenn das Urteil des Bayrischen Verwaltungsgerichtshofs nicht rechtskräftig wird, sondern erfolgreich vor einer weiteren Instanz angegriffen werden kann. Der Antrag der SPD-Fraktion beauftragt daher die Verwaltung zusätzlich zur Einführung von Tempo 30 auf der Landshuter Allee auch ein Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen.

Am Ende der Debatte ist eine Mehrheit aus SPD und CSU diesem Vorschlag gefolgt. Daher wird es kurzfristig kein Fahrverbot für Fahrzeuge der Euronorm 5/V geben.

Was ist nun von alledem zu halten? Aus meiner Sicht sind zwei Aspekte zu unterscheiden, nämlich einerseits die Aussichten mit der vorgeschlagenen Geschwindigkeitsreduktion tatsächlich den Grenzwert von 40 μg/m³ zu erreichen und andererseits die Chancen, das Urteil des Bayrischen Verwaltungsgerichtshofs erfolgreich anzugreifen. Nur wenn beides gelingt, lassen sich weitergehende Fahrverbote verhindern.

In der Stadtratsdebatte hat Manuel Pretzl von der CSU auf eine Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages hingewiesen, in der die Wirkung von Tempo 30 auf Fahrzeugemissionen erläutert wird. Die Ergebnisse der dort zusammengetragenen Studien sind zwar nicht eindeutig, zeigen aber in ihrer Mehrzahl, dass Tempo 30 zu verringerten Emissionen führt, wenn der Verkehrsfluss sichergestellt ist, d.h. es durch die niedrigere Geschwindigkeit nicht zu vermehrten Beschleunigungsvorgängen kommt. Die Reduktionen liegen bei einigen Prozent, was in München für die Erreichung des Grenzwertes gerade ausreichen könnte. Sicher ist das allerdings nicht.

Würde ich an der Landshuter Allee wohnen, wäre ich über den Vorschlag der SPD-Fraktion begeistert. Denn Tempo 30 führt in etwa zu einer Halbierung des Lärms und erhöht die Sicherheit aller Verkehrsbeteiligten, insbesondere zu Fuß und mit dem Rad. Diese Vorteile erscheinen mir für die Lebensqualität der Anwohner viel greifbarer und relevanter als die Unterschiede im Gesundheitsrisiko, die sich durch eine weitere Abnahme der Stickoxidbelastung bis zum Grenzwert um einige wenige Mikrogramm ergibt.

Da der fragliche Abschnitt der Landshuter Allee gerade mal 2,5 Kilometer lang ist, führt eine Absenkung auf Tempo 30 zu einer Fahrzeitverlängerung von ganzen zwei Minuten. Das halte ich für einen deutlich geringeren Eingriff, als alleine in München mehr als 60.000 Fahrzeuge von der Benutzung dieser Straße auszuschließen.

Allerdings fragt man sich, warum diese Idee erst jetzt aufkommt, wo ein Fahrverbot für Fahrzeuge der Euronorm 5/V unmittelbar vor der Tür steht. Wahrscheinlich liegt es daran, dass man dieser Maßnahme keine Erfolgsaussichten eingeräumt hat, solange die gemessenen Werte noch weit höher lagen. So wurden 2015 über 80 μg/m³ und 2020 noch über 50 μg/m³ Stickoxide gemessen. Diese Überschreitungen des Grenzwerts waren so hoch, dass eine Verringerung auf Tempo 30 auch bei optimistischen Annahmen nicht ausgereicht hätte.

Spätestens seit 2023 ist die Situation aber eine andere, da nur noch wenige Mikrogramm bis zu Erreichung des Grenzwertes fehlen. Da hätte das RKU schon von selbst auf die Idee kommen können, diese Möglichkeit noch einmal ins Auge zu fassen und gutachterlich zu prüfen. Denn daran fehlt es jetzt. Ohne eine belastbare Prognose für München wird es schwierig, ein Gericht davon zu überzeugen, dass Tempo 30 ausreicht, um auf ein Fahrverbot zu verzichten.

Ohnehin ist es fraglich, ob das Bundesverwaltungsgericht sich des Falles annehmen wird. Denn der Bayrische Verwaltungsgerichtshof hat keine Revision zugelassen. Zu einer Überprüfung des Falls durch das Bundesverwaltungsgericht wird es daher nur kommen, wenn eine sogenannte Nichtzulassungsbeschwerde Erfolg hat. Dabei prüft das Bundesverwaltungsgericht, ob der Bayrische Verwaltungsgerichtshof die Revision hätte zulassen müssen, beispielsweise weil höchstrichterlich noch nicht entschieden ist, ob bei einer Grenzwertüberschreitung von 5 µg/m³ ein Fahrverbot für mehr als 60.000 Fahrzeuge verhältnismäßig ist.

In der Tat sagt die oben genannte Leitentscheidung des höchsten deutschen Verwaltungsgericht bislang nur Folgendes aus:

Bei einer [….] Überschreitung des Grenzwertes um nur noch 1 µg/m³ im Folgejahr nach Inkrafttreten des Luftreinhalteplanes und gleichzeitig prognostizierter (deutlicher) Unterschreitung des Grenzwertes im übernächsten Jahr ist die Anordnung von Verkehrsverboten regelmäßig nicht geboten.

Den automatischen Umkehrschluss, dass bei jeder höheren Überschreitung ein Fahrverbot unumgänglich ist, lehnt das Bundesverwaltungsgericht ab und verlangt stattdessen eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall. Aus meiner Sicht ist es daher nicht ausgeschlossen, dass das Bundesverwaltungsgericht den vorliegenden Fall aufgreifen wird, um weitere Kriterien für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines weitgehenden Fahrverbotes für Dieselfahrzeuge zu entwickeln.

Damit besteht vielleicht doch noch eine kleine Chance, dass der Vorschlag der SPD-Fraktion Realität werden kann.

Langfristig wird aber auf die Stadt München eine viel größere Herausforderung zukommen: Wie in der Vorlage und in der Stadtratsdebatte mehrfach erwähnt wurde, ist die Verschärfung des Stickoxid-Grenzwertes von 40 µg/m³ auf 20 µg/m³ für 2030 bereits zwischen EU-Parlament und dem EU-Ministerrat abgestimmt worden. Wie dieser Wert in München erreicht werden kann, ist völlig offen. Jetzt noch in ein Verbrennerauto zu investieren, ist keine gute Idee, wenn man ab 2030 nicht von Diskussionen über mögliche weitere Fahrverbote in München betroffen sein möchte.

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