Im Jahr 2019 hat der Deutsche Bundestag mit einer überwältigenden Mehrheit aus CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen die BDS-Bewegung als antisemitisch verurteilt. Begründet wird das wie folgt:
„Seit Jahren ruft die „Boycott, Divestment and Sanctions“-Bewegung (abgekürzt BDS) auch in Deutschland zum Boykott gegen Israel, gegen israelische Waren und Dienstleistungen, israelische Künstlerinnen und Künstler, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Sportlerinnen und Sportler auf. Der allumfassende Boykottaufruf führt in seiner Radikalität zur Brandmarkung israelischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger jüdischen Glaubens als Ganzes. Dies ist inakzeptabel und scharf zu verurteilen. Die Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Bewegung sind antisemitisch. Die Aufrufe der Kampagne zum Boykott israelischer Künstlerinnen und Künstler sowie Aufkleber auf israelischen Handelsgütern, die vom Kauf abhalten sollen, erinnern zudem an die schrecklichste Phase der deutschen Geschichte. „Don’t Buy“ -Aufkleber der BDS-Bewegung auf israelischen Produkten wecken unweigerlich Assoziationen zu der NS-Parole „Kauft nicht bei Juden!“
(Hervorhebung hinzugefügt)
Im Zusammenhang mit der damaligen Debatte hat der Münchner Stadtrat bereits 2017 beschlossen:
„Für Raumvergaben bzw. Vermietung […] wird Folgendes festgelegt:
[..] Organisationen und Personen, die Veranstaltungen in städtischen Einrichtungen durchführen wollen, welche sich mit Inhalten, Themen und Zielen der BDS-Kampagne befassen, diese unterstützen, diese verfolgen oder für diese werben, werden von der Raumüberlassung bzw. Vermietung von Räumlichkeiten ausgeschlossen.“
In der gestrigen Sitzung des Ausschusses für Verwaltung und Personal wurde der Beschluss von 2017 wieder aufgehoben. Über die Gründe für diese 180°-Kehrtwende wird in diesem Beitrag berichtet.
Bereits 2018 hat ein Münchner Bürger Klage gegen die Stadt erhoben, weil ihm die Stadtverwaltung unter Bezugnahme auf den Stadtratsbeschluss die Anmietung eines städtischen Versammlungsraums versagt hatte. Das folgende Gerichtsverfahren vor dem Bayrischen Verwaltungsgerichtshof (VGH) hat die Stadt München ebenso verloren wie die anschließende Revision vor dem Bundesverwaltungsgericht. In einer Vorlage der Stadtverwaltung für die Ausschusssitzung sind die Entscheidungen der beiden Gerichte erläutert. Die wesentlichen Gründe sind wie folgt:
Der VGH betrachtet die Ablehnung des Klägers als einen unzulässigen Eingriff in seine vom Grundgesetz geschützte Meinungsäußerungsfreiheit. Die Beschränkung im Stadtratsbeschluss sei nicht meinungsneutral.
„Sie zielt weder auf einen nach äußerlichen Kriterien bestimmbaren Veranstaltungstyp (Vortrag, Diskussion, Filmvorführung etc.) noch auf den generellen Ausschluss eines abstrakt umrissenen Themenkreises […] Damit beruht der Beschluss des Stadtrats […] auf einer (negativen) inhaltlichen Bewertung der BDS-Kampagne.“
Diese Feststellung trifft zu, denn genau darum ging es ja dem Stadtrat. Für solch einen Eingriff bedarf es jedoch einer Rechtfertigung. Das Grundgesetz legt selbst fest, wodurch die Meinungsfreiheit beschränkt werden kann. Mit den Worten des VGH:
„Die Meinungsfreiheit findet nach Art. 5 Abs.2 GG ihre Grenzen in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze. Als allgemeine Gesetze im Sinne dieses Schrankenvorbehalts können nur Vorschriften gelten, die kein Sonderrecht gegen eine bestimmte Meinung schaffen und sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten, sondern dem Schutz eines schlechthin ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen“ .
(Hervorhebung hinzugefügt)
An dieser Voraussetzung scheitert der Stadtratsbeschluss gleich doppelt. Zum einen, weil der Münchner Stadtrat anders als der Bayrische Landtag oder der Bundestag keine Gesetzgebungskompetenz hat. Ein Beschluss des Stadtrats kann daher schon formal kein „allgemeines Gesetz“ sein.
Zum anderen ist ein – nur – gegen eine Meinung gerichteter Stadtratsbeschluss auch inhaltlich grundgesetzwidrig:
„Das Grundgesetz baut zwar auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen; es erzwingt diese Werteloyalität aber nicht. Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst demzufolge auch extremistische, rassistische oder antisemitische Äußerungen.“
In gleicher Weise argumentiert das Bundesverwaltungsgericht:
Art. 5 Abs. 1 und 2 GG gewährleistet die Freiheit der Meinung als Geistesfreiheit unabhängig von der inhaltlichen Bewertung ihrer Richtigkeit oder Gefährlichkeit. Er erlaubt nicht den staatlichen Zugriff auf die Gesinnung, sondern ermächtigt erst dann zum Eingriff, wenn Meinungsäußerungen die rein geistige Sphäre des Für-richtig-Haltens verlassen und in Rechtsgutverletzungen oder erkennbar in Gefährdungslagen umschlagen. Dies ist der Fall, wenn sie den öffentlichen Frieden als Friedlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung gefährden und so den Übergang zu Aggression oder Rechtsbruch markieren“
Der weite Rahmen der Meinungsfreiheit überrascht vielleicht. Allerdings gibt es durchaus allgemeine Gesetze, die nicht nur Handlungen, sondern auch schon Äußerungen unter Strafe stellen. Das Bundesverwaltungsgericht verweist dazu auf das Verbot von Beleidigungen (§ 185 StGB) und Volksverhetzung (§ 130 StGB). Dabei kommt beispielsweise die strafbare Verharmlosung des Holocaust in Betracht, die häufig mit überzogener Kritik am Umgang von Israel mit den Palästinensern verbunden ist. Da es jedoch im vorliegenden Fall keinerlei Hinweise gab, dass solche Rechtsverstöße vom Kläger zu erwarten gewesen wären, wurde seiner Klage vollumfänglich stattgegeben. Das wäre jedoch anders zu bewerten, wenn ein Antragsteller in der Vergangenheit bereits durch Verstöße gegen die genannten Paragraphen des Strafgesetzbuches aufgefallen ist.
Der Stadtratsbeschluss aus 2017 war vor dem Hintergrund der Gerichtsentscheidungen nicht haltbar und wurde in der gestrigen Ausschusssitzung aufgehoben. In der Debatte hat der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Dominik Krause, ausführlich begründet, warum er jetzt den Freistaat in der Verantwortung sieht. Wenn es der Stadt München unmöglich sei, durch Stadtratsbeschluss BDS-Versammlungen in städtischen Versammlungsräumen zu verbieten, müsse der bayrische Landtag ein „allgemeines Gesetz“ erlassen, mit dem „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ und insbesondere der Antisemitismus an sich in einer Weise verboten werde, dass die Stadt in Zukunft die Nutzung ihrer Räumlichkeiten für Veranstalter mit solchen Zielen wieder untersagen könne. Dem haben sich Redner von CSU und SPD angeschlossen.
Aus meiner Sicht bleibt abzuwarten, ob die Staatsregierung den Ball aufgreifen wird. Denn es wird nicht einfach sein, ein grundgesetzkonformes Gesetz zu formulieren, das gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit „an sich“ untersagt und damit der Meinungsfreiheit engere Grenzen setzt als die bereits bestehenden Verbote im § 130 StGB (Volksverhetzung). Dieser Paragraph ist in den letzten Jahrzehnten immer wieder ergänzt worden. Neben der Strafandrohung für die Leugnung und Relativierung des Holocaust findet sich dort auch das grundsätzliche Verbot, gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe zum Hass aufzustacheln oder zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen aufzufordern. Daher sollte die Stadtverwaltung (und die Justiz) in Zukunft sehr genau hinschauen, ob es bei Veranstaltungen der BDS-Bewegung zu Verstößen gegen diese Vorschriften kommt. Wenn das der Fall ist, muss unmittelbar eingeschritten werden und die Veranstaltung beendet werden, unabhängig davon, ob sie in Räumen der Stadt oder anderswo stattfindet.