Armut in München

Es ist eine Binsenweisheit, dass München eine reiche Stadt ist, vielleicht die reichste Stadt Deutschlands. Ebenso offensichtlich ist jedoch die Tatsache, dass es auch in München viel Armut gibt. Aber wie liegen die Dinge genau? Und wie haben sie sich in den letzten Jahren verändert? Seit 1987 gibt die Stadtverwaltung alle fünf Jahre einen Armutsbericht heraus, „eine faktengestützte Grundlage“ wie es die 3. Bürgermeisterin Verena Dietl in der Einführung zum aktuellen Bericht ausdrückt.

Die nachfolgenden Zeilen reichen nicht aus, die über 300 Seiten des Armutsberichts 2022 zusammenzufassen und zu kommentieren. Daher sollen nur einige Aspekte erläutert werden, die mir bei der Durchsicht und in der Diskussion im Sozialausschuss am vergangenen Dienstag besonders aufgefallen sind.

Voraussetzung jeder Armutsanalyse ist eine Definition, wann Armut vorliegt. Der Bericht der Stadtverwaltung verwendet zum einen das Konzept der „relativen Armut“ : Relativ arm oder „armutsgefährdet“ ist danach, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens in München (knapp 2700 Euro) zur Verfügung hat.

Beispiele für aktuelle Einkommensgrenzen,
unterhalb derer Armutsgefährdung vorliegt:
Quelle: Armutsbericht 2022, S. 19

Auf der Grundlage von Daten aus eigenen Befragungen des Sozialreferats und dem jährlich durchgeführten Mikrozensus sind aktuell 17,0% der Münchnerinnen und Münchner, d.h. ungefähr 265.000 Personen, armutsgefährdet.

Diese Armutsdefinition stößt immer wieder auf Widerspruch, denn der Zuzug einer Person mit sehr hohem Einkommen führt rechnerisch zu dem paradoxen Ergebnis, dass die Anzahl der armen Personen in München steigt. Sie hat aus meiner Sicht aber durchaus ihre Berechtigung, denn Personen mit einem Einkommen unterhalb der oben angegebenen Schwellenwerte sind in aller Regel von der Lebensweise ausgeschlossen, die in München den allgemeinen Standard darstellt.

Das Problem dieser Armutsdefinition liegt eher darin, dass sie nur auf das Einkommen abstellt. Berücksichtigt werden weder individuelle Lebenssituationen noch Vermögen. So fällt beispielsweise ein Student aus wohlhabender Familie mit eigenem Auto und monatlichen Überweisungen der Eltern von 1500 Euro (mehr als das eineinhalbfache des Bafög-Höchstsatz) unter diese Definition. Höchstwahrscheinlich werden weder er noch seine Kommilitonen seinen Zustand als „arm“ betrachten.

Eine andere Armutsdefinition, die der aktuelle Bericht verwendet, ist die sogenannte „bekämpfte Armut“. Darunter fallen alle Münchnerinnen und Münchner, die staatliche Transferleistungen zur Deckung ihres Existenzminimums erhalten. In München sind das 6,9% der Bevölkerung, d.h. etwa 107.000 Personen.

Auch diese Definition hat ihre Schwächen, denn der Armutsbericht 2022 zeigt deutlich, dass es eine erhebliche Anzahl von Personen gibt, die eigentlich Anspruch auf diese Transferzahlungen haben, sie aber – aus welchem Grund auch immer – nicht einfordern (dazu unten mehr). Während also die Zahlen zur relativen Armut die tatsächliche Armut möglicherweise überschätzen, wird sie durch Zahlen zur bekämpften Armut unterschätzt. Die „Wahrheit“ liegt, wenn man so will, irgendwo dazwischen.

Ebenso interessant wie die absoluten Werte ist die zeitliche Entwicklung der Armut in München seit dem letzten Armutsbericht, d.h. im Zeitraum von Ende 2016 bis Ende 2021. Und da zeigt sich – trotz Coronakrise – erfreulicherweise eine leichte Abnahme der Armut in München, unabhängig davon welche Definition man verwendet. So ist die Quote der Armutsgefährdung von 17,4% auf 17,0% gesunken. Bei der bekämpften Armut ergibt sich ein Rückgang von 7,5% auf 6,9%.

Warum ist das so? Eine einfache Antwort dazu findet man im Armutsbericht 2022 nicht. Allerdings liefert die genaue Betrachtung der nachfolgende Tabelle Hinweise, wie sich Armut in München in den letzten Jahren verändert hat:

Entwicklung der bekämpften Armut in München Quelle:
Armutsbericht 2022, S. 30 , Hervorhebung hinzugefügt

Positiv ist die Entwicklung insbesondere beim Arbeitslosengeld II („Hartz IV“), wo die Anzahl der auf Unterstützung angewiesenen Personen um mehr als 5000 zurückgegangen ist. Gleichzeitig ist allerdings die Altersarmut („Grundsicherung im Alter“ , rote Markierung) erheblich angestiegen.

Ich vermute, dass beides letztlich den demographischen Wandel widerspiegelt. Dem Arbeitsmarkt stehen heute auf allen Qualifikationsstufen weniger Personen zur Verfügung, was es der Arbeitsagentur erleichtert, Arbeitslose in neue Jobs zu vermitteln. Gleichzeitig gehen immer mehr Personen in Rente, die im Laufe ihres Berufslebens so wenig verdienen konnten, dass die Rente nicht zum Leben reicht.

Zu beachten ist allerdings, dass die obigen Zahlen aus 2021 sind und damit weder die positiven Effekte der 2022 von der Ampelkoalition eingeführte Grundrente berücksichtigen noch die wirtschaftlichen Folgen des Krieges in der Ukraine.

Die steigende Altersarmut ist kein neues Phänomen. Die SPD-Fraktion im Stadtrat hat daher bereits im September 2020 das Sozialreferat beauftragt, mit einer Feldstudie zu untersuchen, wie häufig ältere Münchnerinnen und Münchner, die aufgrund einer sehr niedrigen Rente eigentlich Unterstützung bekommen müssten, diese Leistungen nicht in Anspruch nehmen. Die Ergebnisse liegen jetzt als Anlage 3 des Armutsberichts 2022 vor.

Dabei zeigt sich, das fast 25% derjenigen, die Anspruch auf Grundsicherung im Alter haben, gar keinen entsprechenden Antrag stellen. Wie die Vorsitzende der SPD-Fraktion, Anne Hübner, im Ausschuss feststellte, ist das zwar deutlich niedriger als die in vorhergehenden bundesweiten Studien bestimmten Quoten von bis zu 60%. Dennoch besteht zweifelsfrei noch Verbesserungsbedarf im städtischen Beratungsangebot.

Die Feldstudie hat daher auch nach den Gründen für die Nichtinanspruchnahme gefragt und folgende Antworten bekommen:

Quelle: S.8 der Anlage 3 zum Armutsbericht 2022

Auf dieser Grundlage hat das Sozialreferat ein Bündel von Maßnahmen entwickelt, die im zweiten und dritten Teil der Anlage 3 erläutert werden. Damit soll es in Zukunft besser gelingen, ältere Personen über ihre Ansprüche zu informieren und falsche Vorstellungen aus dem Weg zu räumen wie die Befürchtung, dass die eigenen Kinder zur Unterstützung herangezogen werden (was nur selten der Fall ist, nämlich erst ab einem Einkommen eines Kindes von mehr als 100.000 Euro ).

Aus meiner Sicht sind von den vorgeschlagenen Maßnahmen insbesondere Schritte vielversprechend, mit denen aktiv auf die Seniorinnen und Senioren zugegangen wird. Dies kann beispielsweise durch regelmäßige persönliche Anschreiben der Stadt erfolgen, die bei Renteneintritt oder auch zu runden Geburtstagen versandt werden, um immer wieder über die zahlreichen Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten der Stadt München zu informieren, auch in Fremdsprachen für Personen mit Migrationshintergrund. Die Hemmungen der älteren Generation, bei finanziellen Problemen eines der vielen Sozialbürgerhäuser selbst aufzusuchen, werden kaum zu überwinden sein. Gesprächsangebote, die nebenbei in einer der vielen Altentagesstätten Münchens erfolgen, erscheinen mir deutlich aussichtsreicher.

Im Ergebnis wird die zunehmende Altersarmut (neben allen anderen Problembereichen wie der Situation von Alleinerziehenden oder kinderreichen Familien) ein weiterer Schwerpunkt der Sozialpolitik in München werden, der viel Geld, Ideen und Engagement benötigt.

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