Zu den besonders ermüdenden Aspekten der Corona-Pandemie gehört die Berichterstattung in den Medien. Im Fernsehen werden in immer gleichen Talkrunden von immer gleichen Protagonisten die immer gleichen Argumente ausgetauscht. Auch in der Presse hat sich fast jede Journalistin und jeder Journalist inzwischen positioniert, entweder um nach viel strengeren (aber angeblich kürzeren) Maßnahmen zu rufen oder um vieles für übertrieben und in der Abwägung für falsch zu halten. Negative Nachrichten stehen im Vordergrund, denn „gloom and doom“ bringt die meiste Aufmerksamkeit. Umso erfreulicher war es, am vergangenen Donnerstag einer Fragestunde der Stadträtinnen und Stadträte im Gesundheitsausschuss zuzuhören. Hier stand nicht die Bewertung, sondern die – durchaus schwierige – Erarbeitung von Fakten zur Pandemielage in München im Vordergrund.
Ausgangspunkt war wieder ein Vortrag von Wolfgang Schäuble, dem Leiter des städtischen Krisenstabes. Neben dem Verlauf der Inzidenz, die in München seit einer Woche bei ca. 150 liegt, berichtete er von der steigenden Belegung der Intensivstationen. Allerdings sei nach Meinung der Experten, so Herr Schäuble, in etwa ein bis zwei Wochen mit dem Maximum der Belastung zu rechnen. Eine Aussage, die aufhorchen lässt, wird doch in vielen Medien immer noch ein exponentieller Anstieg der Anzahl an Intensivpatienten vermeldet.
Was stimmt denn nun? Dazu folgender Exkurs: Für den Blick in die Zukunft der Pandemie braucht man Simulationen. Allerdings sind solche Modellrechnungen keine „Wahrheit“, selbst wenn sie von renommierten Wissenschaftlern erstellt werden, sondern ähnlich unsicher wie die Wettervorhersage. Zwei aktuelle Beispiele dazu:
Der Verlauf der Inzidenz
Anfang März (Kalenderwoche 9) hat das Robert-Koch-Institut (RKI) eine vielbeachtete Prognose der Inzidenz veröffentlicht, mit der die englische Mutation berücksichtigt wird. Der Tagesbericht des RKI vom vergangenen Donnerstag zeigt einen Vergleich dieses Modells mit den tatsächlichen Inzidenzen über die letzten fünf Wochen:
Beim genauen Hinsehen erkennt man, dass der angenommene exponentielle Anstieg der Fälle mit B.1.1.7 zunächst zu den tatsächlich aufgetretenen Fallzahlen (rote „x“) passt, allerdings nur bis zur Kalenderwoche 12. Danach wurde, wie das RKI etwas lapidar bemerkt „im Vergleich zur Prognose eine geringere Anzahl von Fällen nachgewiesen“ . Mit anderen Worten stimmt die Modellrechnung wie die Wettervorhersage nur für die nähere Zukunft, danach nicht mehr. Trotzdem erhalten solche Simulationen maximale – unkritische – mediale Aufmerksamkeit, beispielsweise hier:
Die tatsächlichen Inzidenzwerte lagen nicht einmal bei der Hälfte der für die Kalenderwoche 15 Woche vorhergesagten 350.
Die Belegung der Intensivstationen
Eine weitere Simulation mit großer medialer Aufmerksamkeit betrifft die Intensivstationen. Das „DIVI“- Prognosemodell wurde Mitte März von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin erstellt Es soll die Anzahl der Patienten auf den Intensivstationen in Deutschland voraussagen. Die letzte Aktualisierung vom 20. April sieht so aus:
Für die vergangenen Monate gibt das Modell die Realität gut wieder, denn die tatsächlichen Patientenzahlen (grüne Punkte) liegen nahe der errechneten roten Kurve im linken Teil des Bildes. Ab April unterscheidet das Modell seine Vorhersage für verschiedene angenommene Maximalinzidenzen. Der tatsächlich beobachtete Verlauf der Patientenzahlen passt gut zur Vorhersage für eine Maximalinzidenz von 150 (blaue Kurve) und damit in etwa zu den tatsächlichen bundesweiten Inzidenzwerten von +/- 160 in den letzten zwei Wochen.
Auch dieses Modell darf nicht als unumstößliche Wahrheit missverstanden werden. Es lässt aber für die nahe Zukunft der nächsten zwei Wochen vermuten, dass mit ca. 5000 Patienten das Maximum der Belegung der Intensivstationen erreicht ist und die Zahlen danach aufgrund der fortschreitenden Impfungen sinken werden. Je weiter die Kurven in die Zukunft reichen, desto unsicherer sind allerdings auch hier die Vorhersagen.
Im Ergebnis spricht somit einiges für die Aussage von Herrn Schäuble, dass die Münchner Intensivstationen in ein bis zwei Wochen den Höchststand an Corona-Patienten erreichen werden und die Situation danach allmählich besser wird. Auch die Stadträtinnen und Stadträte im Gesundheitsausschuss wirkten wegen der Situation in den Münchner Kliniken nicht sehr beunruhigt.
Weitere Aspekte des Vortrags im Gesundheitsausschuss betraf die laufende Impfkampagne. Hier konnte Herr Schäuble von einer Schaltkonferenz mit der Bundesregierung am vergangenen Dienstag berichten. Dort wurde nachdrücklich versichert, dass die Impfstofflieferungen im Mai ganz erheblich zunehmen würden. Damit wären pro Monat bis zu 400.000 Impfungen in München möglich. In diesem Fall sei man bis Anfang August mit der ersten Impfung für alle erwachsenen Münchnerinnen und Münchner durch. Allerdings besteht noch erhebliche Unsicherheit, da die Impfstofflieferungen für München bislang von Woche zu Woche stark schwanken.
Von den Ausschussmitgliedern wurde nachdrücklich angeregt, die Ausnutzung der Impfdosen im Impfzentrum zu verbessern. Geübten Ärzten sei es möglich, nicht nur sechs, sondern sieben Spritzen aus einem Biontech-Fläschchen aufzuziehen. Dem will die Verwaltung nachgehen. Möglicherweise stehen hier aber Anweisungen des Freistaats im Wege und die Frage, wer für solch eine schwierigere Vorgehensweise beim Vorbereiten der Impfungen verantwortlich sein soll.
Überraschend war die Aussage, dass die Sonderaktion zur Impfung von Lehrerinnen und Lehrern bislang nur schleppend angenommen worden ist. Warum das so ist, war nicht zu klären. Hingegen ist die außerhalb der Impfreihenfolge angelaufene Verimpfung von ca. 6000 zusätzlichen AstraZeneca-Dosen an interessierte Münchnerinnen und Münchner über 60 ein Erfolg. Laut muenchen.de sind inzwischen alle Termine ausgebucht.
Darüber hinaus konnte die Verwaltung weitere Daten zur Infektionslage in München präsentieren. Die Reihentestung an den Schulen nach den Osterferien hat innerhalb von fünf Tagen (bis die steigende Inzidenz gemäß den Regeln des Freistaats den Präsenzunterricht wieder weitgehend gestoppt hat) zu 163 positiven Schnelltests geführt. Das sind etwa 10% aller Infektionsfälle in München in diesem Zeitraum. Auf die Frage aus dem Ausschuss, wie hoch der Anteil falsch positiver Schnelltests an den Schulen ist, gab es noch keine Antwort, da ein Abgleich mit den nachfolgenden PCR-Tests noch nicht erfolgt ist. Herr Schäuble wird versuchen, bis zur nächsten Vollversammlung dazu weitere Informationen zusammenzutragen.
Schließlich gab es auch Daten zur Mobilität. So ist die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs in München inzwischen auf 55% gesunken. Der motorisierte Individualverkehr liegt aktuell bei ca. 70% des normalen Aufkommens. Die berechtigte Nachfrage, ob zu Stoßzeiten trotzdem noch mit gefährlich vollen U-Bahnen zu rechnen sei, soll ebenfalls bis zur nächsten Vollversammlung geklärt werden.
Insgesamt empfand ich die mehr als zweistündige Diskussion als einen vorbildlichen Versuch, die vielfältigen Aspekte der Pandemie in München einzuordnen und zu verstehen. Einige der von den Ausschussmitgliedern aufgeworfenen Fragen stellen sich auch auf Bundesebene, ohne dass es Antworten gibt. Pressekonferenzen des Gesundheitsministers und der Leitung des RKI konzentrieren sich stattdessen auf gebetsmühlenartige Ermahnungen an die Bevölkerung. Von tiefergehenden Nachfragen der anwesenden Medienvertreter ist nur selten etwas zu hören. Auch eine breite Expertenanhörung im Bundestag hat nach mehr als einem Jahr Pandemie nicht stattgefunden. Aber nur wenn die Faktenlage für die Öffentlichkeit so klar und umfassend wie möglich aufgearbeitet wird, kann sich daran eine sinnvolle Diskussion anschließen, welche Maßnahmen wirklich notwendig und angemessen sind.