Kein Kaninchenzüchterverein

Bezirksausschüsse und Bürgerversammlungen sind die Wurzeln der Politik in München. In jedem der 25 Stadtbezirke gibt es einen Ausschuss aus gewählten Bürgerinnen und Bürgern, der vom Stadtrat angehört werden muss, wenn Pläne der Stadt den jeweiligen Bezirk betreffen.

Die 25 Stadtbezirke Münchens (Quelle: Wikimedia)

Die Größe der Ausschüsse richtet sich nach der Anzahl der Bewohner im jeweiligen Stadtbezirk und liegt in München zwischen 15 und 45 Mitgliedern.

Nach der Bayrischen Gemeindeordnung muss in jedem Stadtbezirk einmal im Jahr eine Bürgerversammlung stattfinden. Bürgerinnen und Bürger beschließen dort Empfehlungen, mit denen sich der jeweilige Bezirksausschuss und der Stadtrat befassen muss.

Wenig überraschend hat die Pandemie auch hier Sand ins politische Getriebe gestreut. So tagen viele Bezirksausschüsse seit April 2020 nur noch in einer reduzierten „Ferien-“ Besetzung. Seit Frühjahr 2020 hat keine Bürgerversammlungen mehr stattgefunden. In der gestrigen Sitzung des Verwaltungs- und Personalausschusses des Stadtrats hat das Direktorium der Stadtverwaltung Vorschläge präsentiert, um Bürgerversammlungen wieder zu ermöglichen und um die weitere Tätigkeit der Bezirksausschüsse in der Pandemie auf eine solide rechtliche Grundlage zu stellen. Wie in der „großen“ Politik zeigt sich, dass eine Verringerung von Infektionsrisiken ohne Einschränkung demokratischer Prozesse schwierig ist. Auch die vielgelobte Digitalisierung kann nur zum Teil Abhilfe schaffen.

Gemäß einer ersten Vorlage, die in der gestrigen Sitzung von den Stadträtinnen und Stadträten ohne Diskussion durchgewunken worden ist, wird die Satzung für Bezirksausschüsse geändert. Danach kann jeder Bezirksausschuss zur Senkung des Infektionsrisikos mit einfacher Mehrheit die Bildung eines – beliebig kleinen – Sonderausschusses beschließen, der bis Ende 2021 alle Aufgaben übernimmt. Eine ähnliche Regel sieht Art. 120 b der bayrischen Gemeindeordnung auch für den Stadtrat selbst vor – hier allerdings ist die Einsetzung eines verkleinerten Ausschusses nur mit Zweidrittelmehrheit möglich.

Schaut man in die Stellungnahmen der 25 Münchner Bezirksausschüsse zu dieser Vorlage, findet man viel Zustimmung. Nur der Bezirksausschuss 5 (Au – Haidhausen) lehnt die Satzungsänderung ab:

Die Stellungnahmen der Bezirksausschüsse aus Sendling-Westpark und Feldmoching-Hasenbergl stimmen der Satzungsänderung zwar zu, verzichten aber ausdrücklich auf die Möglichkeit, mit verringerter Mitgliederzahl zu arbeiten.

Das erscheint mir durchaus erwägenswert. Denn als Folge einer Ausschussverkleinerung fallen nicht nur kleine Parteien heraus. Es ist – jedenfalls in Einzelfällen – durchaus möglich, dass Beschlüsse gefasst werden, die bei vollständiger Besetzung keine Mehrheit finden würden. Man kann nur hoffen, dass sich die Mitglieder der anderen Bezirksausschüsse dessen bewusst sind und bis Ende des Jahres keine grundlegenden Entscheidungen für ihre Stadtteile fällen, die mit knappen Mehrheitsverhältnissen zustande kommen. Denn die Furcht vor Ansteckung sollte nicht zu undemokratischen Ergebnissen führen.

Digitale Alternativen zu Präsenzveranstaltungen der Ausschüsse sind erst in der Entwicklung. Die Probleme dabei sind vielfältig, von sicheren Abstimmungstools bis zur erforderlichen Öffentlichkeit der Sitzungen oder umgekehrt der Vertraulichkeit von bestimmten Besprechungen. Letzteres ist erkennbar nicht einmal auf höchster Bundesebene gelungen.

Digitale Lösungen braucht es auch für die Bürgerversammlungen. Wegen der Pandemie hat der Freistaat die Pflicht für das Abhalten von jährlichen Bürgerversammlungen für 2021 aufgehoben. Allerdings müssen ausgefallene Versammlungen in 2022 nachgeholt werden.

In einer weiteren Vorlage hat die Münchner Stadtverwaltung am Mittwoch vorgeschlagen, Bürgerversammlungen bereits im Sommer 2021 in hinreichend großen Räumen, beispielsweise dem Circus Krone, durchzuführen. Die Veranstaltungen sollen mit Teilnehmern vor Ort stattfinden und werden zusätzlich ins Netz übertragen. Die Planung dafür gleicht allerdings der Quadratur des Kreises:

So soll einerseits das Streamen die Möglichkeit eröffnen, zugunsten des Infektionsschutzes auf eine persönliche Teilnahme zu verzichten. Andererseits muss für den Datenschutz sichergestellt werden, dass Diskussionsbeiträge nur von Teilnehmern zu sehen und zu hören sind, die bereits Tage vorher eine schriftliche Einwilligung dazu abgegeben haben. Liegt eine solche Einwilligung nicht vor, muss der Redebeitrag bei gleichzeitiger Anzeige eines Standbildes von einer anderen Person verlesen werden. Um zu prüfen, dass diese komplizierte Choreographie während der Versammlung auch geklappt hat, wird nicht live gestreamt, sondern – einmalig – zeitversetzt. Die Bereitstellung einer Aufzeichnung der Versammlung in einer Mediathek ist nicht vorgesehen. Auch hier bremst der Datenschutz.

Die Stadträtinnen und Stadträte haben dieser Vorlage am Mittwoch mit großer Mehrheit zugestimmt, allerdings nach einer Debatte, in der durchaus Zweifel laut geworden sind, ob diese Vorgehensweise auf Dauer sinnvoll ist. Langfristig soll von der Verwaltung ein ganz neues Konzept für digital unterstützte Bürgerversammlungen entwickelt werden.

In der Tat erscheint es fraglich, ob die jetzt geplanten Bürgerversammlungen mit der Vielzahl von Regeln zum Infektions- und Datenschutz eine lebendige Diskussion der Bürgerinnen und Bürgern überhaupt noch zulassen. Das mag mancher für entbehrlich halten. Aus meiner Sicht sind jedoch Bürgerversammlungen ebenso wie funktionierende Bezirksausschüsse etwas anderes als Sitzungen eines Kaninchenzüchtervereins, auf die man gegebenenfalls über einen längeren Zeitraum verzichten kann. Im Gegenteil, sie sind Ausdruck und Bestandteil der über Jahrhunderte unter großen persönlichen Gefahren erkämpften Demokratie in diesem Land. Das gilt es bei der Vermeidung anderer Risiken zu bedenken.