Der Anfang vom Anfang einer Verkehrswende

Corona macht es möglich. Schneller als noch vor wenigen Tagen gedacht, bringt die neue grün-rote Mehrheit im Stadtrat allererste Maßnahmen für eine Verkehrswende in München auf den Weg. Fünf sogenannte „Pop-up lanes“, auf deutsch Fahrradspuren, sollen bereits in den nächsten Wochen mehr Platz für Radfahrer an besonders wichtigen Stellen in der Münchner Innenstadt schaffen – zunächst zeitlich begrenzt bis Ende Oktober. So hat es der Stadtplanungsausschuss gestern beschlossen.

Doch warum jetzt so schnell? Das erklärt ein Blick in die aktuellen Zahlen zum Verkehr in München, die die Verwaltung kurzfristig in einer Vorlage zusammengetragen hat und die das dramatisch geänderte Verkehrsverhalten aufgrund der Pandemie zeigen:

Zu normalen Zeiten werden in München 1,2 Mio Wege mit dem öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zurückgelegt. Der Deutsche Städtetag schätzt, dass aus Furcht vor Ansteckung Corona zu einem Rückgang von ca. 75% in der ÖPNV Nutzung geführt hat. Das bedeutet für München eine Verlagerung von 900.000 Wegen pro Tag auf andere Verkehrsmittel, wobei geschätzt wird, dass sich die Verlagerung etwa hälftig auf den Autoverkehr und auf das Fahrrad verteilt. Für München sind das 450.000 zusätzliche Wege, die mit dem Fahrad zurückgelegt werden, zusätzlich zu den 900.000 Wegen zu normalen Zeiten. Das wäre eine Steigerung um ca. 50% (!) – ähnlich der aktuellen Entwicklung in anderen europäischen Großstädten wie Paris, Brüssel oder London.

Ganz so stark ist der tatsächliche Anstieg in München wohl nicht, da Homeoffice und die Aufforderung, zu Hause zu bleiben, die Mobilität insgesamt reduziert haben. Zählungen für den April zeigen aber eine Zunahme von immerhin 20%. Selbst wenn die Infektionszahlen inzwischen stark rückläufig sind, ist – auch in Anbetracht des nahenden Sommers – nicht davon auszugehen, dass der Radverkehr in den nächsten Monaten wieder auf ein Vor-Corona Niveau absinkt. Es liegt auf der Hand, dass die ohnehin unzureichende Radinfrastruktur in München diesem Ansturm nicht gewachsen ist. Bestätigt wird dies durch steigende Unfallzahlen (+15%).

Solange der ÖPNV nur wenig benutzt wird, ist allerdings auch eine Steigerung des relativen Anteils des Autoverkehrs an den Wegen der Münchner (und insbesondere der Pendler) zu erwarten. Ob es damit trotz Homeoffice etc. auch zu absolut steigenden Zahlen des Autoverkehrs kommt, war der Vorlage leider nicht zu entnehmen.

Die konkret geplanten Maßnahmen der Verwaltung sind anschaulich in fünf Steckbriefen zusammengefasst. Hier zum Beispiel die Pläne für die Rosenheimerstraße zwischen Orleansplatz und Rosenheimerplatz:

In beiden Richtung wird der Straßenraum neu aufgeteilt und der Radverkehr erhält eine eigene Spur. Bislang gab es auf dieser Hauptverkehrsachse überhaupt keinen Radweg.

Die Diskussion der Vorlage im Stadtplanungsausschuss folgte den vorhersehbaren Frontlinien. Auf der einen Seite Grüne und SPD (die mit ihren neuen Stadträten seit der Wahl deutlich mehr an Schubkraft und Kompetenz im Bereich Verkehr gewonnen hat) und auf der anderen Seite CSU und FDP, die sich unterschiedslos gegen jede der vorgeschlagenen Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs ausgesprochen haben.

Zentrales Argument der CSU und der FDP ist die „fehlende Bürgerbeteiligung“, wenn diese Änderungen innerhalb weniger Wochen umgesetzt werden. Negative Folgen für Anwohner und Gewerbetreibende blieben dabei wie bereits beim Radweg in der Fraunhoferstraße unberücksichtigt.

So bürgernah das auch klingt, überzeugend finde ich es nicht. Zum einen hat der Oberbürgermeister in der Debatte zu Recht darauf hingewiesen, dass keine der fünf neuen Fahrradspuren zu einem Verlust an Parkplätzen führen wird und sich damit sowohl für die Anwohner als auch beim Lieferverkehr von Gewerbetreibenden – anders als in der Fraunhoferstraße – nichts Wesentliches ändern wird.

Zum anderen ist beispielsweise der oben gezeigte Radweg in der Rosenheimerstraße schon deutlich länger in der Diskussion. Von den Grünen wurde daher zutreffend daran erinnert, dass jedenfalls der zuständige Bezirksausschuss sich schon damit beschäftigt hat und einstimmig, d.h. sogar mit den Stimmen der CDU und der FDP, dem dargestellten Vorschlag für die Fahrradspur zugestimmt hat.

Das pauschale Argument der fehlenden Bürgerbeteiligung wirkt daher doch etwas vorgeschoben. Das Ziel ist wohl eher, den Ist-Zustand über Corona und den Sommer hinweg zu retten, in der Hoffnung dass der Druck durch die vielen Radler dann wieder abgenommen hat oder sich bis dahin irgendein neues Argument finden lässt, damit es alles so (autofreundlich) bleibt, wie es seit Jahrzehnten ist. Die neue Stadtratsmehrheit hat sich glücklicherweise davon nicht abhalten lassen und die Vorlage verabschiedet. Das lässt Hoffnung aufkommen, dass die Neuverteilung des Straßenraumes in München, für die die neue Rathauskoalition unter anderem gewählt worden ist, nunmehr mit Schwung in Angriff genommen wird.